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Das Internet vergisst nicht so schnell...

... und erst Recht nicht auf Befehl.

Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière hat eine Grundsatzrede zur Netzpolitik gehalten und darin ein "digitales Radiergummi" gefordert:

"Ziel wären ein "digitales Radiergummi" und ein Verfallsdatum, das ich an meine Daten anbringen kann. Möglicherweise sollten wir über ein "Recht, vergessen zu lassen" nachdenken, wie es der EU-Kommission vorschwebt. Hilfreich wäre in vielen Fällen schon ein sog. Indexierungsverbot, bei dem Suchmaschinenbetreiber verpflichtet werden, bestimmte markierte Einträge bei den Sucherergebnissen nicht anzuzeigen."

Das mit dem vergessen kann man vergessen

Auf den ersten Blick eine gute Idee, und sogar noch auf den zweiten. Dummerweise lässt sich das aber nicht zuverlässig umsetzen. Weder die erste noch die zweite Forderung. Das mit dem "Diese Nachricht zerstört sich in 1 Minute selbst" klappt ja nicht mal im Film richtig, dann da ist dann zwar die Nachricht mehr oder weniger spektakulär in Rauch aufgegangen, die Kopie im Kopf des Lesers bleibt aber erhalten. OK, das Beispiel hinkt nicht nur, das kriecht nur noch, bietet mir aber einen Aufhänger für meine nächstes, praktischeres Beispiel: Usenet-Postings und dem "X-No-Archive"-Header.

"Denkt denn niemand an die Leser?"

Von DejaNews erfunden, um die Aufnahme von Usenet-Posting ins eigene Archive zu unterbinden, erfüllt er theoretisch die Forderung von Dr. de Maizière und zeigt praktisch ihre Grenzen. Denn X-No-Archive wird zwar von DejaNews und dessen Quasi-Nachfolger Google respektiert, aber nicht zwingend auch von allen anderen, die Usenet-Postings archivieren. Und das sind nicht nur andere Anbieter, sondern auch die in zig Tausenden von Clients gespeicherten Postings. Selbst wenn die Archive ein Posting nicht erfassen, ist es damit nicht aus dem Internet verschwunden. Und da ja meist in anderen Postings darauf verwiesen wird, sind zumindest Teile davon auch noch in den Archiven vorhanden. Ich behaupte jetzt mal ganz frech, ohne es beweisen zu können oder zu wollen: Wenn man ein bestimmtes Posting haben möchte, bekommt man es auch. Das ist im Zweifelsfall nur eine Frage des Preises: Wie viel muss man wohl bieten, damit die Leute anfangen, ihre alten Backups zu durchsuchen? Bei einem Usenet-Posting lässt sich über die Angabe von Gruppe und Datum recht gut eingrenzen, ob es evtl. gespeichert wurde und wenn ja, in welchem Backup es sich evtl. befinden könnte. Darin dann nach der Message-ID zu suchen, ist ein Klacks (vorausgesetzt, die alten Datenträger lassen sich noch lesen).

Zurück ins Web

Aber ich schweife vom Thema ab, wenn auch mit Absicht. Das Web ist nicht das Usenet mit seinen überschaubaren Datenmengen (sofern man die Binärgruppen ausschließt) und wird auch nicht zeitweilig mehr oder weniger komplett auf mehreren Servern zum Abruf bereit gehalten, insofern könnte man bestimmte Daten durch Löschen an der Quelle tatsächlich entfernen. Die Suchmaschinen "vergessen" die Inhalte sowieso irgendwann, wenn sie ihren Index aktualisieren, und haben i.A. auch keine vollständige Kopie aller Seiten gespeichert. Das ist die Aufgabe eines Archivs, und gibt es überhaupt außer Archive.org weitere? Aber auch wenn das oder die Archive eine "Bitte nicht archivieren"-Markierung einführen und beachten, bleibt das Problem des "Weiterkopierens": Was soll denn im Web vergessen werden? Das, was den Betroffenen peinlich oder unangenehme ist, ..., kurz: Alles, was gerade auch für andere interessant ist, wenn es um Klatsch, Tratsch und Schadenfreude geht. Wenn der Betroffene diese Texte, Bilder oder Videos nicht selbst veröffentlicht hat, wurden sie im Zweifelsfall schon mehrmals auf anderen Servern kopiert, bevor er überhaupt davon erfährt.

Niemand speichert alles, aber viele das "interessante"

Und daran könnte auch eine gesetzliche Regelung nichts ändern, da die in in den meisten Fällen schlicht und ergreifend nicht anwendbar ist. Warum sollte es einen Blogger in Südamerika interessieren, dass ein in seinen Augen lustiges Video nach deutschen oder europäischen Recht nach 3 Monaten gelöscht werden soll? Warum sollte es einen Bilder-Sammeldienst in China interessieren, dass das von einem Benutzer gespeicherte Foto in Deutschland ein "Kopieren verboten!"-Tag hat? Auf Aufforderung werden diese Daten sicher früher oder später gelöscht, aber dann ist es für den Betroffenen meist schon zu spät.

Fangt die Sau

Wenn die digitale Sau erst mal durchs virtuelle Dorf des Internets schleicht, kann man sie nicht mehr einfangen. Und das aus einem ganz einfachen Grund: Eine herumlaufende richtige Sau kann man einfangen und zurück in den Stall sperren oder schlachten. Eine virtuelle Sau, egal ob Text, Bild oder Video, existiert nicht nur ein mal, sondern beliebig oft. Die virtuelle Sau kann gleichzeitig auf dem eigenen Server geschlachtet, d.h. gelöscht, werden und als Kopie auf anderen Servern weiterleben. Und daran würde weder ein neuer "X-No-Index"-Header etwas ändern, der die Aufnahme der Seite in Archiven oder Suchmaschinen verbietet, noch ein "Daten am ... löschen!"-Tag. Niemand kann irgend jemanden daran hindern, die Daten trotzdem zu kopieren und aufzubewahren. Man kann sicherlich gegen jeden vorgehen, der diese Daten erneut veröffentlicht, aber das kann im Zweifelsfall eine Sisyphosarbeit werden. Je eher man damit anfängt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, alle Kopien zu erwischen. Aber schon das Anfangen ist ein Problem: Bevor man Daten löschen kann, muss man erst mal wissen, dass sie da sind. Was bei selbst veröffentlichten Daten einfach, aber oft auch unnötig ist ("Erst denken, dann veröffentlichen"), kann bei von Dritten veröffentlichten Daten ebenfalls zur Sisyphosarbeit werden. Nehmen wir das oft als Beispiel genannte peinliche Party-Foto - wer weiß schon mit Sicherheit, ob nicht vielleicht eins existiert und irgendwann irgendwo veröffentlicht wird? Wie soll man das mit dem "digitalen Radiergummi" erreichen? Vielleicht findet es der potentielle zukünftige Arbeitgeber beim Googeln nach dem Bewerber, bevor der selbst davon erfährt? Wird er daraufhin nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, erfährt er den Grund i.A. nicht.

Googeln verboten

In Finnland versucht man, genau dieses Problem juristisch zu lösen: Arbeitgebern ist es verboten, ohne deren Zustimmung nach Bewerbern zu googeln. Auch das ist wieder eine auf den ersten Blick gute Idee, nur: Kann man das wirklich durchsetzen? Das Verbot verhindert, dass jemand mit dem Argument, man hätte etwas Negatives im Internet gefunden, nicht eingeladen oder eingestellt wird. So eine Argumentation würde als Verstoß gegen das Gesetz erkannt und entsprechende Folgen haben. Und was ist, wenn er einfach nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen oder eingestellt wird, ganz ohne Begründung, oder mit einer harmlosen, nicht angreifbaren? Ob der potentielle Arbeitgeber gesucht hat oder nicht, kann man dem kaum nachweisen.

Ein Beispiel habe ich noch...

... und das ist Google, genauer: Streetview. Oft wird gesagt, dass sei ja nicht so schlimm, wenn man da irgendwo auf der Straße fotografiert wird, schließlich weiß ja keiner, dass man auf einem bestimmten Bild drauf ist. Im Prinzip stimmt das, man kann (noch, warten wir mal ab, wie gut die Gesichtserkennung noch wird) nicht nach einem bestimmten Namen googeln und bekommt dann die entsprechenden Streetview-Fotos geliefert. Aber ob das den Menschen hilft, die nun als Motiv eines peinlichen Streetview-Fotos durchs Web getratscht werden? I.A. ohne Namensnennung, aber wer sie kennt, wird sie sicher erkennen, verpixeltes Gesicht hin oder her.

Und damit niemand sagen kann, dass ich auf Google rumhacke: Das trifft genauso auf alle anderen Bilder im Internet zu, auch auf z.B. Schnappschüsse während Stadtrundfahrten oder was auch immer. Google ist mit Streetview das bei weitem prominenteste Beispiel, aber auch z.B. YouTube und Flickr sind als Materialquellen nicht zu verachten. Ob da ein wie auch immer geartetes Recht auf Gegendarstellung, Löschung oder was auch immer wirklich hilft? Schön, wenn dann derjenige, der das Foto oder Video veröffentlicht hat, es löschen muss, aber was ist mit den Kopien auf anderen Servern? Bis der Betroffene die alle gefunden hat, kann es dauern. Und vor allem: Was ist mit den Kopien in den Köpfen der Menschen, vor allen denen, die den Betroffenen kennen? Ein Spruch wie "Hey, sahst Du auf dem Internet-Foto bescheuert aus!" ist unabhängig davon, ob es das Foto noch im Internet gibt oder nicht, meist nicht besonders erbaulich.

Indexierungsverbot ist lokale Augenwischerei

Noch kurz etwas zu einem möglichen Indexierungsverbot: Warum sollte eine Suchmaschine aus den USA sich für eine deutsche oder europäische Regelung interessieren? Oder eine in China oder Russland (der Spider von yandex.ru ist übrigens ganz vernarrt in diese Seiten) oder in welchem Land auch immer? Weil in Italien drei Google-Manager zu Haftstrafen verurteilt wurden, weil sie die Veröffentlichung eines Schlägervideos auf YouTube nicht verhindert haben? Dann können sie ihren Laden gleich ganz zu machen, denn fast alles wird irgendwo in der Welt gesetzlich verboten sein. Das Internet ist international und lässt sich mit nationalen Regelungen einfach nicht kontrollieren. Nicht mal durch Filter, auch wenn das viele Politiker einfach nicht einsehen wollen. Und auf genau so eine Lösung würde ein Indexierungsverbot hinauslaufen: In Deutschland würden die hier verbotenen Fundstellen ausgeblendet, in anderen Ländern nicht.

Soziales Problem - Technische Lösung nicht möglich

Wir haben hier ein soziales Problem: Das Internet allgemein und die Social Networks im besonderen sowie den Umgang damit. Und das lässt sich weder technisch noch juristisch lösen. Alle Menschen müssen lernen, damit verantwortungsbewusst um zu gehen. Gesetzliche Regelungen können dabei helfen, mehr aber auch nicht. Und dabei ist es egal, ob es sich um ein Recht auf Gegendarstellungen, Korrekturen oder Löschungen oder um ein Verbot der Indexierung oder Speicherung oder Auswertung handelt.

Carsten Eilers

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